N. Gramaccini: Das Bildgedächtnis der Schweiz

Cover
Titel
Das Bildgedächtnis der Schweiz. Die helvetischen Altertümer (1773–1783) von Johannes Müller und David von Moos


Herausgeber
Gramaccini, Norberto
Erschienen
Basel 2012: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
498 S.
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Sebastian Brändli

Im Zentrum des hier anzuzeigenden Werks stehen die «Merkwürdigen Überbleibsel von Alterthümmeren an verschiedenen Orthen der Eydtgenosschafft», die Johannes Müller, quasi-obrigkeitlicher Ingenieur und Geometer des alten Stadtstaates Zürich, im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts veröffentlichte. Dieser Publikation war in verschiedener Hinsicht wenig Erfolg beschieden: nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, weil die Nachfrage gering und der verlegerische Erfolg deshalb bescheiden war, sondern vor allem auch aus wissenschaftlicher Sicht: Das Werk hatte kaum Echo und geriet bald in Vergessenheit. Von den nachfolgenden Generationen wurde es schnöd übergangen. So kritisierte etwa der Gründungsvater der Schweizer Kunstgeschichte, Johann Rudolf Rahn, in seinem Opus zur Schweizer Kunstgeschichte 1876 ein Jahrhundert später: die Abbildungen zeigten zwar «eine Reihe von mittelalterlichen Gegenständen», offenbarten jedoch «meist mehr Absonderliches als kunstgeschichtlich Bedeutendes», und seien vor allem «wie dies der damaligen Richtung entsprach, unkritisch zusammengestellt und stilistisch manieriert in der künstlerischen Wiedergabe.» Der Berner Ordinarius für Kunstgeschichte, Norberto Gramaccini, legt nun in seinem grossformatigen und schwergewichtigen Band, erschienen im bzw. vorzüglich in Form gegossen durch den Schwabe Verlag, den Finger auf diesen wunden Punkt und versucht in gewisser Weise die Rehabilitation. Nach einer knappen und sehr konkreten Einführung durch Gramaccini folgen als Hauptteil des Werks die 12 Teile des Originals, kommentiert und historisch durch diverse Mitarbeiter/innen des der Edition zugrunde liegenden Nationalfonds-Projektes befragt; weitere Abschnitte mit Briefen von Johannes Müller, mit der Bibliographie sowie mit dem auf uns gekommenen Bestand der «Alterthümmeren» in öffentlichen Bibliotheken und Archiven sowie den nötigen Registern runden das grosse, systematische Werk ab.

Ein erstes Verdienst des Projekts ist sicher einfach die Hebung eines entschwundenen Schatzes. Die Re-Edition und Kommentierung des Werks ist für sich schon eine grosse Leistung, vor allem die erneute Publikation des vielleicht nicht künstlerischen, aber vom Quellenwert her grossartigen Bilderbestandes. Ein zweiter Pluspunkt ist die in der Kommentierung mitenthaltene Einbettung der originalen Abbildungen in ihren Entstehungskontext, manchmal auch in den Wirkungsraum. Gerade ein historisches Werk, das selber keine Geschichte betreiben, sondern solche nur vermitteln wollte, lohnt es besonders, in seiner inhaltlichen Basierung analysiert zu werden. Ein wichtiges Forschungsresultat des Projektes ist schliesslich auch die Korrektur der Autorschaft, indem die Mitwirkung von David von Moos, der als Textautor auf den Originalausgaben keine Nennung erhielt, bewiesen wird und in diesem Sinne nicht nur das Werk, sondern auch die Autorschaft rehabilitiert wird.

Was treibt den Leser zur Lektüre? Da ist zunächst einmal der Gwunder, was von Müller im bisher kaum bekannten Werk ausgewählt und abgebildet wurde, was also für würdig befunden wurde, be- und vermerkt zu werden. Sicher, die «Alterthümmeren» waren ein Zürcher Werk, Zürich ist deshalb bei den ausgewählten Objekten – auch wenn diese gemäss Titel von «verschiedenen Orthen» der Schweiz stammen sollten – überdurchschnittlich häufig vertreten. Interessant ist auch die Verteilung der Objekte in zeitlicher Hinsicht, hier stehen mittelalterliche Objekte klar vor römischen bzw. auch vor jüngeren, «frühneuzeitlichen». Besonders attraktiv, und sicher auch der Grund, weshalb sich ein kunstgeschichtlich orientiertes Projekt an die Hebung dieses Fundes machte, sind die Fragen der Darstellung: Die Autoren der «Alterthümmeren» wollten keine historische Forschung präsentieren, schon gar nicht eine solche betreiben; sie sahen ihre Aufgabe in der Vermittlung von Fakten, insbesondere von tatsächlichen Objekten, die dann – in der Programmatik Helvetiens – durchaus auch politisch wirken sollten. Dabei waren sie, auch das zeigt der Band sehr schön, auch von europäischen Vorbildern geleitet, etwa englischer oder französischer Herkunft.

Der wichtigste Punkt, der den Rezensenten jedoch zur Lektüre (und Rezension) verleitet hat, ist die vorgenommene Rehabilitation. Denn die Geringachtung des Originalwerkes hat mit der entstehenden wissenschaftlichen Geschichtsschreibung Zürichs im 19. Jahrhundert direkt zu tun; es war nicht nur der bereits zitierte Rahn, sondern insbesondere auch der Gründer und langjährige Erstpräsident der Antiquarischen Gesellschaft, Ferdinand Keller, der zur Ächtung der Vorgänger-Bestrebungen gedrängt hat. Und da fühlt sich der Rezensent, selber ehemaliger Präsident der Antiquaren und somit Nachfolger Kellers, verpflichtet, im Sinne der historischen Gerechtigkeit auch der – aus heutiger Sicht: vor- bzw. protowissenschaftlichen – Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts ihren Tribut zu zollen. Vielleicht ist es in diesem Sinne bezeichnend, dass es einem Forschungsprojekt unter Leitung eines Berner Lehrstuhles vorbehalten war, die nötige Neupositionierung vorzunehmen.

Redaktion
Veröffentlicht am
12.08.2014
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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